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Ruhestand - ein zeitgemäßes Wort? „Ruhe“ und „stand“, oder „sich zur Ruhe setzen“ - das klingt ziemlich bewegungslos, keinesfalls „kreaktiv“; eher so, als würde da nicht mehr viel passieren, bis man sich endgültig zur „letzten Ruhe legt“. Für unsere Vorfahren hatte das noch eine andere Bedeutung. Vor der industriellen Revolution arbeiteten sie als Handwerker, Bauern, Händler, bis es nicht mehr ging. „Sich zur Ruhe setzen“ war damals gleichbedeutend mit „Ich kann oder will nicht mehr.“ Aber diesen Zeitpunkt konnten sie als Selbständige weitgehend selbst bestimmen, wenn Ihnen nicht Krankheit, Unfall oder Tod zuvor kam. Durch die industrielle Revolution wurde aber nicht nur die Arbeit an den Maschinen standardisiert und durchgetaktet. Auch die Arbeits- und Lebensrhythmen der Menschen hatten sich diesen Produktionsverhältnissen anzupassen. Nicht mehr leistungsfähige Ältere wurden ausrangiert (wie defekte Maschinen) - oder, damit es nicht so krass klang, vom Arbeiterstand in den Ruhestand versetzt. Der standardisierte Zeitpunkt dafür war die Vollendung des 70. Lebensjahres, was bei Einführung der gesetzlichen Rentenversicherung 1891 aber nur die wenigsten erreichten. Auch für unsere Großeltern und Eltern verbarg sich hinter dem Wort „Ruhestand“ trotz inzwischen höherer Lebenserwartung überwiegend die innere Haltung, sich von etwas weg zur Ruhe zu setzen - nämlich vom anstrengenden (von REFA- und ähnlichen -Fachleuten getakteten und standardisierten) Arbeitsleben. Bei unserer heutigen Lebenserwartung und dem allgemeinen Gesundheitszustand der meisten „jungen Alten“ ist es jedoch sinnvoller (=kreaktiver!), sich auf etwas hin auszurichten - nämlich einen neuen Lebensabschnitt, der noch viele zufriedene oder sogar glückliche Jahre dauern kann. Wenig motivierend ist dabei nur, dass es dafür noch keinen wirklichkeitsnahen, griffigen Ausdruck gibt. Viele Autoren suchen und experimentieren deshalb fleißig. Die Mehrzahl bemüht Metaphern aus dem Tagesverlauf wie den „Lebensabend“ (Was gibt es Schöneres als einen Sonnenuntergang? Und wer will schon gern umnachtet sein?). Andere greifen den Verlauf des Jahres auf wie „Herbst des Lebens“ oder „Goldener Herbst“ (Die bunte Vielfalt des Herbstlaubes hat schließlich auch etwas Schönes, wenn man nicht gerade als Opa für das Wegfegen zuständig ist). Richard Nelson Bolles (Die besten Jahre, 2008) favorisiert den vierten Satz einer Sinfonie und beschreibt, wie Beethoven in der Eroica oder Tschaikowsky in der Pathétique nach dem meist aufwühlenden, triumphalen oder bombastischen dritten Satz (der Phase der Arbeit!) den vierten langsam, getragen und meditativ ausklingen lassen. Das ist für ihn gleichbedeutend mit „Wohlfühl-Ruhestand“ - einer Wortschöpfung, die später noch näher erläutert wird. Von vier Phasen geht auch der amerikanische Altersforscher und Psychiater Gene D. Cohen aus (siehe Literatur: Vital und kreativ, 2006) - aber eher auf Lebensphasen bezogen, in die er Arbeit und Ruhestand einbindet. Er hat die Stufenmodelle der Entwicklungspsychologen Jean Piaget und Erik Erikson (seinem Lehrer) aufgegriffen und insbesondere die letzte Stufe (das „Reife Erwachsenenalter“) weiterentwickelt. Diese achte Stufe baute Cohen (weil Erikson nur knapp eine Seite in seinem Werk darauf verwendete) aus zu vier Phasen des „Reifen Alters“ und nannte sie:
Bemerkenswert daran sind die hohe Flexibilität seines Ansatzes und das enorme geistige und psychische Entwicklungspotenzial, das er an gut 3000 Patienten im “reifen Alter” entdeckt hat. Hier nur beispielhaft die Kurzbeschreibung der so genannten Phase der Befreiung: „Auf die Phase der Ausrichtung in der Lebensmitte folgt das, was ich Phase der Befreiung nenne: eine Zeit, in der wir den Wunsch verspüren, zu experimentieren, neue Wege zu beschreiten und bislang existierende Hemmungen oder Beschränkungen hinter uns zu lassen. Oft gehen die beiden Phasen fließend ineinander über, bis sich dann in den späten Fünfzigern, in den Sechzigern oder auch erst in den Siebzigern der Drang, alte Fesseln abzustreifen, wirklich Bahn bricht. Dieser Übergang ist von bedeutsamen Veränderungen im Gehirn begleitet. Unter anderem bilden sich neue Verbindungen zwischen Hirnzellen, und die beiden Hirnhälften kommen in ausgewogenerem Verhältnis zum Einsatz. Eine für diese Phase typische Empfindung lässt sich in die Worte fassen: „Wenn nicht jetzt, wann dann?“ (Cohen, 2006, Seite 6) Das Wort „Ruhestand“ findet übrigens auch Gene D. Cohen abseits der heutigen Lebenswirklichkeit. Aber der Ausspruch „Ich gehe jetzt in meine Befreiungsphase“ (statt in den Ruhestand) wird sich vermutlich auch nicht so schnell in unserer Sprache durchsetzen. Das heißt: kreaktiv weitersuchen! Oder haben Sie schon eine Idee? Vielleicht ist Ihnen aber auch völlig egal, wie man das nennt? Hauptsache Sie müssen nicht mehr arbeiten. zurück zu Denkanstöße
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